Sven: Wie hört sich das an? Vielleicht wie eine Fantasy-Geschichte. Eine Superhelden-Story. Aber lassen wir uns nicht von den vielleicht unrealistisch klingenden Bildern täuschen. Diese Vision beschreibt etwas höchst Reales. Eine Frau, ein Drache, ein Säugling, ein Krieg. Egal wie viel oder wenig wir im Moment über die Hauptfiguren wissen – feststeht: Hier wird gekämpft. Wir sind mitten in einen Konflikt geraten, der jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung stattfindet. Warum genau gestritten wird, verstehen wir noch nicht. Aber egal sein kann es uns auf keinen Fall, denn es betrifft unseren Planeten: Die Erde. Er, der Drache, ist zu euch heruntergekommen. Er hat viel Zorn. Und wenig Zeit.
Kann so etwas sein? Kann man sich auf solch einen Gedanken überhaupt einlassen? Dass es mehr gibt, als man im Labor nachweisen kann? Ich bin Christ. Ich glaube an Gott und die Bibel. Deshalb muss ich diesen Gedanken natürlich bejahen. Aber den Großteil meines Lebens lebe ich so, als wäre unsere messbare Welt alles, was es gibt. Wenn ich vor einer wichtigen Entscheidung stehe, sehe ich oft nur meinen kleinen Horizont. Dann ist das einzige, was mich interessiert, dass ich irgendwie bequem durchs Leben komme. Geht es dir auch so? Wir machen uns nicht bewusst, dass hinter den Kulissen ein Kampf ausgetragen wird, in dem es um viel mehr geht. Ich vergesse, dass mein Leben Bedeutung hat, die über eine Lebensspanne von 80 Jahren hinausgeht. Dass nicht egal ist, was wir tun.
Klar, das klingt fantastisch, aber es würde erklären, warum wir alle davon ausgehen, freie, selbstbestimmte Wesen zu sein, die sich nach einem Sinn im Leben sehnen. Kann uns die Offenbarung hier wirklich etwas offenbaren?
Judith: Als ich das erste Mal mit der Möglichkeit konfrontiert wurde, dass ein universeller Kampf um uns tobt, obwohl wir ihn nicht wahrnehmen, da ging es mir wie Jack. Jack, dem fünfjährigen Jungen, Hauptperson und Erzähler in Emma Donoghues Erfolgsroman »Raum«. Jack wurde in einem 12 m² großen Raum geboren. Dort lebt er seither mit seiner Mutter, Tisch, Bett, Schrank, Fernseher, WC, Herd und Kühlschrank. Eine Tür gibt es auch, aber Jack hat sie noch nie offen gesehen. Er und seine Mutter spielen, singen, machen Wettrennen, erfinden Geschichten – Jack lebt das normale Leben. Aus seiner Sicht zumindest. Er weiß, dass nachts jemand kommt, der Essen bringt. Aber er weiß nicht, dass es ein Krimineller ist, der seine Mutter vor sieben Jahren entführt hat, sie seither missbraucht und auch Jack seit seiner Geburt mit ihr gefangen hält.
Jack hat von seiner Mutter gelernt, dass der »Raum« der einzige Ort ist, der wirklich existiert. Außerhalb ist nur das leere All, und im Fernsehen sieht man nur erfundene Dinge. Mit diesem Wissen lässt es sich recht gut leben, bis zu Jacks fünftem Geburtstag ein ferngesteuertes Auto auftaucht und die Dinge außer Kontrolle geraten. Seine Mutter beschließt, ihn zu »entlügen«, wie sie es nennt. Sie verschweigt zwar die Details ihrer Leidensgeschichte, aber sie offenbart ihrem Sohn, dass der »Raum« nur ein klitzekleiner Teil der Wirklichkeit ist, und dass es draußen eine unendlich große Welt gibt, mit allem, was er im Fernsehen gesehen hat, und mehr! Jack muss sich zum ersten Mal klarmachen, dass es unzählige Menschen, Tiere, Autos und Geschäfte gibt, Sonne, Wind, Meer usw. Seine Mutter erzählt noch verrücktere Sachen: Dass auch sie eine Mutter hat, die da draußen lebt, dass sie einmal zur Schule ging, mit ihrem Bruder spielte. Jack sagt daraufhin: »Mein Kopf wird gleich zerspringen von all den neuen Sachen, die ich glauben soll.« (S. 109) Und er kann es nicht. Er fasst es schlicht und einfach nicht. Man muss sich das vorstellen, Jack kannte nichts Anderes. Er fühlte sich nicht eingesperrt. Er dachte, die Wirklichkeit bestünde aus den vier Wänden und seiner Mutter. Was für uns normal ist, sprengte seine gesamte Vorstellungskraft, seine bisherige Existenz – ja, stellte sie sogar infrage: »Draußen hat alles. … Ski, Feuerwerke, Inseln, Aufzüge, Jojos – ich muss es mir immer wieder bewusstmachen: Es gibt sie wirklich, sie passieren alle da draußen. Und Leute auch: Feuerwehrmänner, Lehrer, Räuber, Babys, Fußballspieler, sie sind alle wirklich dort! Nur ich bin nicht dort, Mama und ich sind die einzigen, die nicht dort sind. Gibt es uns wirklich?« (S. 88)
Um wieder Sicherheit zu gewinnen, nennt Jack seine Mutter eine Lügnerin. Doch dann entdeckt er außerhalb der Dachluke ein verwelktes Blatt. Wie einen Gruß aus der anderen Dimension. Und obwohl er langsam beginnt, sich mit »draußen« auseinander zu setzen, fällt es ihm nicht leicht: Während seine Mutter aus der Wahrheit neue Kraft schöpft, Erinnerungen aufleben lässt, und intensiv Fluchtpläne ausarbeitet, versucht Jack, den »Raum« zu verteidigen. Der Raum ist doch gar nicht schlecht! Der Raum ist sein Leben.