Mit dem Leben, mit der Wirklichkeit, mit dem Universum ist es also genau so wie mit Pippi und Marie. Wir haben ein paar Einblicke, ein paar Studien, ein paar Ergebnisse. Der Rest ist Theorie oder Interpretation. Das sieht man auch daran, dass es für das gleiche Phänomen widersprüchliche wissenschaftliche Erklärungen gibt. In vereinfachter Form haben wir das im ersten Abschnitt gesehen, als es um die Frage ging, warum wir die Fehler immer nur bei den anderen bemerken.
In Allgemeinen lösen wir diese Widersprüche, indem wir sagen, eine Vielzahl von Aspekten spiele eine Rolle: neurologische, psychologische, soziologische, historische, biologische etc. Damit erkennen wir die Komplexität der Realität an. Wenn wir auf diese Weise widersprüchliche Begründungen „vereinen“, geben wir allerdings gleichzeitig zu, dass wir von der wahren bzw. tatsächlichen Erklärung keine Ahnung haben. Wir spekulieren nur. Frei nach dem Motto: Irgendetwas davon wird schon stimmen.
Daran ist nichts Verwerfliches. Wissenschaftler sind sich der Tatsache durchaus bewusst, dass alle Erklärungen nur Versuche sind, die morgen wieder verworfen werden können. Dadurch stellt sich allerdings die Frage, aus welchem Grund dann gewisse Erklärungsaspekte ausgeschlossen werden. Wenn sich Psychologe, Biologin und Soziologe alle gegenseitig widersprechen und wir sagen: „Wahrscheinlich habt ihr alle ein bisschen recht“, wie können wir dann sicher sein, dass die Theologin garantiert kein bisschen recht hat? Warum sollte der theologische Aspekt, sprich Gott als Erklärungsfaktor, als einziger keine Rolle spielen?
Weil von vornherein feststeht, dass es Gott nicht gibt? Selbst der überzeugte Atheist Richard Dawkins räumt ein, dass es unmöglich ist, das zu beweisen.
Wir können nicht beweisen, dass es keinen Gott gibt, aber wir können mit Sicherheit sagen, dass seine Existenz sehr, sehr unwahrscheinlich ist.
Richard Dawkins, New Humanist · The Journal of the Rationalist Press Association, Bd. 107, Nr. 2, 1992
Alles, was die Wissenschaft tun kann, ist: alternative Erklärungsmodelle finden, die ohne Gott auskommen. Solange wir aber lediglich widersprüchliche – wenn auch jeweils in sich plausible – Erklärungsmodelle haben, wäre es ignorant oder zumindest voreilig, den spirituellen Aspekt der Realität auszuschließen. Das bedeutet, dass wir bei jeder Frage neu bewerten müssen, welche Theorie das Puzzle am überzeugendsten ergänzt.
Du solltest deine Erfahrung ernst nehmen. Sie ist nicht weniger stichhaltig oder rational als ein Experiment in einem Labor. […] Du lässt zu, dass andere Aspekte als der biologische oder physische eine Rolle spielen.
Sophia Serrano · Encounters, Episode 3
Wollen wir damit sagen, dass jetzt alle, wie Newton, an Gott glauben müssen? Nein, absolut nicht. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass man sich seiner Sache nicht zu sicher sein sollte, da wir alle offene Fragen haben. Bevor man als naturwissenschaftlich aufgeklärter Atheist den Splitter des Glaubens aus dem Auge eines Christen oder Moslems ziehen will, sollte man zuerst den Balken der Annahmen in seinem eigenen Auge erkennen. Glaube ist kein intellektueller Selbstmord, sondern eine von vielen möglichen Annahmen über unsere Realität.
Wir alle sind bei der Formung unseres Weltbilds subjektiv und selektiv. Wir wählen aus, und zwar persönlich und individuell, welche Erklärungen und Modelle für uns plausibel sind und welche offenen Fragen wir ignorieren. Dabei üben unsere Herkunft sowie die Kultur und die Gesellschaft, in der wir leben, einen starken Einfluss aus. Wenn wir uns das bewusst machen, werden wir dem Glauben anderer Menschen mit mehr Demut und Offenheit begegnen. Egal ob sie an Gott glauben oder an dunkle Energie oder an beides.