Psalm 137 – Tränen der Hoffnung

Ein Graustufenbild einer Statue mit dem Kopf in der Hand und weint, neben einem reich verzierten, leeren Vogelkäfig.

Rivers of Babylon von Boney M. gehört zu den bekanntesten Schlagern aus den 1970er-Jahren. Monatelang belegte dieses Lied in den europäischen Hitparaden den 1. Platz.

Nur wenige ahnen, wie alt dieser Text schon ist: Er stammt aus der Bibel, aus Psalm 137. Anders als es im lässigen Popsong klingt, handelt es sich bei Psalm 137 um einen herzzerreißenden Klagegesang angesichts von Krieg und Unrecht.

Was diese alten Worte aus Psalm 137 auch für mein Leben heute bedeuten, darum geht es in diesem Artikel.

Trauma

Gibt es etwas, was dein Leben in zwei Teile teilt – in ein Davor und ein Danach? Etwas so Einschneidendes, dass es einfach ALLES verändert hat? Die Scheidung deiner Eltern? Der Tod eines geliebten Menschen? Das Ende einer Beziehung? Ein verhängnisvoller Unfall?

Manchmal passieren Dinge im Leben, die alle unsere Vorstellungen weit übersteigen (Hiob 3,25). In solchen Situationen reagieren wir mit Schock und Verneinung. Mit etwas Verzögerung mischen sich auch noch andere Emotionen hinein – Trauer und Wut. „Wer hat mir das angetan? Warum gerade ich? Das ist so ungerecht!“ Es kann Jahre dauern, bis wir in die neue Realität hineinfinden und unser Gleichgewicht zurückerlangen.

Kein Zurück mehr

Einschneidend

Ein Trauma verändert das Leben für immer – auch dich selbst.

Ein traumatisches Ereignis ist wie eine Vertreibung aus der Heimat. Es gibt kein Zurück mehr in das Davor, so sehr du es dir wünschen würdest. Nichts ist mehr, wie es war, auch du bist nicht mehr der gleiche Mensch.

Psalm 137 nimmt uns in diesen inneren Prozess mit hinein. Wir fühlen mit, wie ein gläubiger Mensch sein Herz vor Gott ausschüttet – und das in einer Eindringlichkeit und Ehrlichkeit, die man von der Bibel vielleicht nicht erwartet hätte.

Das wollen wir uns jetzt genauer ansehen.


Vor dem Aus

Psalm 137,1-4 · NLB An den Flüssen Babels saßen wir und weinten, wenn wir an Jerusalem dachten. (2) An die Äste der Weiden hängten wir unsere Harfen. (3) Denn die uns gefangen hielten, wollten, dass wir singen, und die uns peinigten, wollten Freudenlieder hören: »Singt doch eins der Lieder von Jerusalem!« (4) Doch wie können wir in einem fremden Land die Lieder des HERRN anstimmen?

Die Bewohner Jerusalems hatten sprachlos und zitternd mit angesehen, wie ihre Heimatstadt verwüstet und der herrliche Tempel Salomos zerstört wurde. Nach jahrelanger Belagerung und heftigem Kampf wurden die Mauern abgetragen und die kostbaren, heiligen Geräte ehrfurchtslos entwendet (Daniel 1,1.2). Die Bewohner Jerusalems und Judas wurden innerhalb der nächsten Jahre in verschiedenen Wellen nach Babylon deportiert.

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Vertrieben

Flucht

Dass Menschen ihre Heimat verlieren, ist heute so aktuell wie noch nie. Die Zahl der Vertriebenen nimmt immer mehr zu.

Flucht und Vertreibung scheinen für uns vielleicht weit weg. Dabei sind sie heute wie nie zuvor an der Tagesordnung. Laut der UNO sind im Jahr 2024 ca. 120 Millionen Menschen aus ihrer Heimat Vertriebene. Das sind mehr als alle Bewohner von Deutschland, Österreich, der Schweiz und der Niederlande zusammen!

In der älteren Generation haben viele Menschen auch selbst diese Erfahrung gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten 12-14 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen.

Von Gott verlassen?

Weltwunder

Der Salomonische Tempel zog Besucher aus vielen Ländern an.

Jede Nation, die so etwas erlebt, wäre in ihren Grundfesten erschüttert, doch traf es die Bewohner Jerusalems besonders hart. Der Tempel ihres Gottes Jahwe war jahrhundertelang DAS sichtbare Zeichen der Gegenwart Gottes gewesen (2. Mose 25,8.9; 1. Könige 8,10.11). Nachdem sie in der Wüste unter Mose ein Zeltheiligtum gehabt hatten, hatte König Salomo mit Unterstützung der Propheten einen Tempel erbaut.

Einst waren Könige aus anderen Ländern nach Jerusalem gepilgert, um die Herrlichkeit dieses Weltwunders zu bestaunen (1. Könige 10,1). Alle Juden hatten angenommen, dieses Bollwerk ihres Glaubens sei unzerstörbar. Dienten sie nicht dem allmächtigen Schöpfergott, der allen anderen Göttern weit überlegen war?

Wie konnte Gott es zulassen, dass die ungläubigen Feinde des Südreichs Israels Gottes heilige Wohnstätte zerstörten? War Gott selbst von ihnen gewichen und hatte sie der Zerstörung preisgegeben? Waren sie ganz und gar von Gott verlassen?

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Die Musik verstummt

Musik und das Gedächtnis

Kaum etwas kann so gut Erinnerungen hervorbringen wie Musik.

Die Babylonier fordern ihre Kriegsgefangenen zum Singen auf (Psalm 137,3). Vielleicht aus Neugier, vielleicht aber auch, um sie zu verspotten! Den Verschleppten ist allerdings nicht nach Musik zumute, sie haben einen Kloß im Hals.

Die Lieder von Jerusalem waren so oft erklungen, wenn sie aus allen Teilen des Landes zum Tempel gepilgert waren, um an den religiösen Festen teilzunehmen (Psalm 122). Unbeschreiblich schöne Musik hatte es dort gegeben, herrliche Melodien erschallten, als sie fröhlich feierten oder ehrfürchtig am Gottesdienst teilnahmen (Psalm 84,2-5).

Jetzt klangen diese Lieder schmerzhaft in ihrer Erinnerung nach. Unmöglich, sie in Babylon zu singen, im Land der Feinde, im Land der Gottferne. Es wäre wie Hohn. Es wäre zu schmerzhaft, um auch nur daran zu denken.

Klagelied an den Allmächtigen

Mein Anker

Wenn meine Welt untergeht – an wen soll ich mich wenden, wenn nicht an Gott?

Psalm 137 spricht zwar davon, dass die Lieder verstummen, doch ist dieser Psalm selbst ein neues Lied. Ein Klagelied an den Allmächtigen. Die Vertriebenen haben ihren Glauben nicht aufgegeben, sondern schreien zu Gott – mit ihrem ganzen Schmerz und ihrer Trauer.

In der Bibel erleben wir immer wieder, dass Menschen auch mit ihrer Klage und Trauer zu Gott kommen. Es gibt sogar ein ganzes Bibelbuch, in dem der Prophet Jeremia seine Klage über die Zerstörung von Jerusalem vor Gott ausbreitet (die „Klagelieder“).

Auch ich kann wissen, dass es nichts gibt, was ich Gott nicht sagen kann, und keine Situation, in der er mich nicht hören würde. Solange ich mit Gott verbunden bin – und sei es durch meine Klage – gibt es Hoffnung, dass er meine Situation wendet. Er kann die Gefangenen befreien und die Verschleppten wieder nach Hause bringen.

Diese Hoffnung lebt auch im Klagegesang von Psalm 137.

Niemals vergessen!

Psalm 137,5.6 Wenn ich dich jemals vergesse, Jerusalem, soll meine rechte Hand gelähmt werden. (6) Meine Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich nicht mehr an dich denke, wenn Jerusalem nicht mehr meine höchste Freude ist.

Eine gelähmte rechte Hand schränkt die eigene Handlungsfähigkeit sehr ein. Eine Zunge, die am Gaumen klebt, bedeutet, dass ich verdurste und überhaupt keine Kraft mehr habe. So sieht der Schreiber von Psalm 137 sein Leben, wenn er seine Herkunft und seinen Glauben daraus streichen würde.

Er will bewusst die Erinnerung pflegen und verarbeiten. Seine Identität hängt daran. Er will mit Gott verbunden bleiben – dafür steht die Erinnerung an Jerusalem für ihn. Das hat für ihn höchste Priorität und soll seine Hoffnung und Freude bleiben.

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Resilienz

Eine Umwälzung im Leben verlangt mir ab, dass ich mich auf die neuen Gegebenheiten einstelle, mich damit arrangiere und mir eine neue Existenz aufbaue. Sich dem zu verweigern, käme einem Selbstmord gleich. Die Phase des Schocks befähigt mich auch dazu, erst einmal „zu funktionieren“ und die notwendigen Schritte zu gehen.

Dabei gehen manche auch den Weg des Verdrängens. Nicht mehr an das Alte denken, nicht mehr darüber reden. Nur noch im Moment leben. Sich nicht anmerken lassen, woher man kommt. Genau das will der Psalmschreiber nicht tun.

Wer bin ich?

Krise

Ein Trauma stellt alles in Frage, was ich glaubte.

Ein Trauma rührt immer auch an meiner Identität: Wer bin ich jetzt im neuen Land, ohne Heimat? Wer bin ich mit meiner Krankheit? Wer bin ich ohne meinen Partner oder ohne mein Kind? Schnell stelle ich hier alles in Frage. Doch gibt es auch EINEN, der bleibt und auf den ich mich weiterhin – sogar gerade jetzt – verlassen kann, das ist mein liebender Gott.

Diese Erfahrung machten auch viele Juden damals in ihrer nationalen Katastrophe.

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Drei Schicksale

Einer derjenigen, der schon früh aus Jerusalem deportiert worden war, war der Prophet Daniel (605 v. Chr.). Er war damals noch ein Jugendlicher gewesen. Er musste die Sprache Babylons lernen und eine Ausbildung am Königshof durchlaufen. Dennoch vergaß er Jerusalem nie. Sein Leben lang betete er dreimal täglich mit offenen Fenstern nach Jerusalem (Daniel 6,11). Obwohl er sich in Babylon ein neues Leben aufbaute, verlor er nie die Hoffnung, dass er und seine Landsleute einmal zurückkehren würden. Siehe auch die Serie Daniel – Geschichten und Visionen von Hope TV.

Auch der Prophet Hesekiel wurde verschleppt. Er gehörte zur priesterlichen Familie und hätte eigentlich genau jetzt, mit ca. 30 Jahren, seinen Dienst am Tempel antreten sollen (598 v. Chr.). Nun saß er in Babylon fest. Ihm zeigte Gott in einer geheimnisvollen Vision seinen himmlischen Thron mit Rädern (Hesekiel 1). Er wollte damit ausdrücken: Ich bin auch im Exil bei euch. Ich bin nicht an einen bestimmten Ort gebunden!

Der Prophet Jeremia lebte ebenfalls in dieser Zeit. Er hatte vorhergesagt, dass Jerusalem und der Tempel zerstört werden würden. Durch ihn hatte Gott aber auch die Aussicht gegeben, dass die Gefangenschaft nur 70 Jahre dauern würde (Jeremia 25,11). Gottes Rat an die Verschleppten lautete, dass sie sich zwar in Babylon ein Leben aufbauen sollten (Jeremia 29,7), aber zugleich ihren Glauben und ihre Hoffnung niemals aufgeben sollten.

Identität bewahren

Erinnerung

Sich an Gottes Wirken in der Vergangenheit zu erinnern, stärkt auch in Zeiten der Krise.

Wer seine Identität und seinen Glauben bewahrt, der hat also eine Hoffnung, selbst im Exil, im Trauma und im Unglück. Die Herausforderung besteht darin, niemals zu vergessen, woher man kommt. Wer vergisst, woher er geistlich kommt, dem „verdorrt“ die Zunge und die Hand. Er weiß nicht mehr, was er tut oder redet. Wer aber festhält, ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt (Jeremia 17,7.8). Er hält der Dürre stand und bleibt „grün“.

Das ist die Botschaft von Psalm 137.

Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Psalm 137 könnte hier zu einem versöhnlichen Ende kommen, doch ausgerechnet jetzt folgen noch drei verstörende Verse, die schon viele Bibelleser irritiert haben:

Psalm 137,7-9 HERR, denk doch daran, was die Edomiter an dem Tag taten, als die babylonischen Heere Jerusalem eroberten. Sie schrien: »Zerstört es! Macht es dem Erdboden gleich!« (8) Babel, du selbst wirst zerstört werden. Der ist gut dran, der Vergeltung an dir übt für das, was du uns angetan hast. (9) Der ist gut dran, der deine kleinen Kinder an den Felsen zerschmettert!

Wie passen solche Zeilen in die Bibel? Hat nicht Jesus von Feindesliebe und Gewaltverzicht geschrieben? Darf ein gläubiger Mensch überhaupt solche Emotionen haben? Sollte man sie nicht lieber für sich behalten? Warum wurden sie nicht nachträglich gestrichen? Oder ist dies nur ein Ausdruck des „barbarischen“ Alten Testaments, während sich das Gottes- und Menschenbild seitdem weiterentwickelt haben?

Verraten und verletzt

Enttäuschung

Kaum etwas ist so verletzend, wie von Verwandten oder Freunden verraten zu werden.

Wir brauchen hier auf jeden Fall etwas Hintergrund zu diesen Versen: Die Edomiter sind mit Israel (bzw. den Juden) verwandt. Israel geht auf Jakob zurück, Edom auf dessen Zwillingsbruder Esau (1. Mose 25,30). Trotz dieser engen Verwandtschaft kamen die Edomiter den Juden nicht zur Hilfe, sondern bejubelten stattdessen deren Untergang und feuerten deren Feinde praktisch noch an. Dieser Verrat wurde von den Juden als sehr schmerzlich empfunden.

Wie kann ich damit umgehen, wenn ich verletzt werde?

Rache nehmen

An vielen Stellen der Bibel wird uns empfohlen, nicht selbst Rache zu nehmen, sondern sie Gott zu überlassen (Sprüche 20,22). Es ist seine Aufgabe, für Gerechtigkeit zu sorgen. Er kennt auch alle Beweggründe und Einzelschicksale, während wir immer nur in eine Spirale der Gewalt geraten würden, wenn wir unsere Verteidigung selbst in die Hand nähmen.

Vers 7 tut genau das: Der HERR wird daran erinnert, was dort vorgefallen ist. Wenn ich Ungerechtigkeiten in meinem Leben Gott vorlege, kann ich sie selbst leichter loslassen. Wenn ich daran festhalte, werde ich verbittern. Hier findest du etwas zur Frage: Darf ich mich als Christ selbst verteidigen?

Kinder am Felsen zerschmettern?

Unverständlich

In der Bibel finden sich auch Aussagen, die für uns heute schwer nachvollziehbar sind.

Den krassen Abschluss von Psalm 137 bildet Vers 9 mit seiner ungeheuerlichen Aussage, Kinder am Felsen zu zerschmettern. Wie kann jemand so etwas ernsthaft vorschlagen?

Wie kam es zu dieser Aussage? Hatten die Babylonier solche Gräueltaten in Jerusalem verübt? Vermutlich. Der Schreiber möchte das wohl vor Gott in Erinnerung rufen, damit es nicht vergessen wird.

Wenn Kriegsverbrechen geschehen, kann das niemand wieder gut machen. Das Mindeste ist, dass diese Gräuel als Kriegsverbrechen anerkannt werden und die Schuldigen später zur Rechenschaft gezogen werden. Das geschieht heute noch, wenn auch nie in ausreichendem Maße.

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Unzensiert

Es ist erstaunlich für uns, aber diese Aussage aus Psalm 137 wird weder gefiltert und zensiert noch verurteilt. Wer Kriegsverbrechen erlebt, ist in einer existenziellen Ausnahmesituation und hat ganz natürliche und intensive Gefühle von Zorn darüber. Hier ist es offenbar gesünder, diese vor Gott auszusprechen, als selbst Gewalt zu üben.

Andere Aussagen der Bibel zeigen uns aber deutlich, dass Kinder nicht für die Sünden ihrer Eltern sterben sollen (Hesekiel 18,19.20). Psalm 137 ist nicht als Aufruf zum Kindermord zu verstehen oder als Verharmlosung von Kriegsverbrechen, sondern im Gegenteil, als Aufschrei über solche furchtbaren und traumatischen Verbrechen, die nicht vergessen werden sollen.

Psalm 137 auf einen Blick

Psalm 137 beschreibt die Traurigkeit und Wut, die ein Mensch in Folge eines traumatischen Ereignisses empfindet. Er zeigt, dass auch wir mit unserer Traurigkeit und Verzweiflung (und sogar mit unserem Zorn) immer zu Gott kommen können.


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Vertonungen von Psalm 137

Hier findest du einige Lieder oder Kompositionen über Psalm 137.

Giuseppe Verdi: Gefangenchor („Va, pensiero“) aus der Oper Nabucco. Diese Oper geht auf Psalm 137 zurück.

 

Heinrich Schütz: Becker Psalter (op. 5, Nr. 146) An Wasserflüssen Babylons“

 

Johann Sebastian Bach: Choral „An den Wasserflüssen Babylon”

 

Vasily Krupitsky (1819-1875): By the rivers of Babylon

 

Francesca LaRosa: „Let My Tongue be Silenced“

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