Kein Patentrezept

Mir wurde klar, dass es kein Patentrezept für solche Situationen gibt. Jeder Mensch reagiert anders auf die Nachricht, dass er nicht mehr lange leben wird. Den einen macht diese Perspektive mutlos und müde. Der andere will dem Tod die Stirn bieten, und er mobilisiert alle Kräfte zum Kampf. Das Wissen um den nahen Tod kann schwach, aber auch stark machen. Was ist hier richtig?

Unsere Tochter hatte Phasen, in denen sie glasklar wusste: „Ich muss sterben, und zwar bald!“ Aber es gab auch Wochen und Monate, wo sie dieses Wissen weit von sich schob. Sie stürzte sich kopfüber ins pralle Leben und genoss es, als hätte sie noch eine ganze Ewigkeit vor sich. Heute bin ich davon überzeugt, dass beides für sie richtig war. Manchmal hatte sie genügend Kraft für die Wahrheit, dann schaute sie ihr tapfer ins Gesicht. Zu anderen Zeiten aber fühlte sie sich zu schwach und verdrängte den Gedanken ans Sterben. Beim Zuhören spürte ich, in welcher Gemütslage sie sich gerade befand, und ich fühlte: Es ist in Ordnung. Ich werde ihr die barmherzigen Lügen nicht wegnehmen. In Zeiten, in denen sie sachlich und realistisch über ihren baldigen Tod sprach, habe ich ihr nicht widersprochen, weil dieser Gedanke mir zu tief ins Herz schnitt. Ich habe gelernt, sie in ihren Gedanken ernst zu nehmen und ihre Gefühle zu respektieren. Ich habe gelernt, sie zu begleiten und sie zu halten, wenn sie Halt brauchte. Und wenn sie davonflattern wollte, ließ ich sie los.

 

Das fiel mir anfangs schwer. Ich hatte Angst, dass sie ins Leere stürzt, wenn sie merkt, dass sie keine „Flügel“ hat, sondern auf einer Illusion dahingleitet. Ich konnte sie nur deshalb loslassen, weil ich wusste, dass wir alle nicht dem Zufall ausgeliefert sind. Gott hat versprochen, dass er für uns da ist. Er hält uns fest, und er hält auch unsere Lieben. Wir müssen uns nicht verzweifelt an sie klammern. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir aufgefangen werden.

Trotzdem kommt der Moment, da können wir der Realität nicht mehr ausweichen. Der Verlust trifft uns mit voller Härte. Wir spüren und wissen: Dieser Alptraum ist kein Trugbild. Das passiert wirklich! Und es passiert mir! Ich verliere diesen Menschen.